Eine Kritik an NoFap: Warum es der Bewegung an Perspektive fehlt
Mit NoFap ist in den 2000er-Jahren eine Bewegung entstanden, die die Nebenwirkungen von Pornografie in den Fokus rückt: Pornografie kann Depressionen fördern oder zu sexuellen Funktionsstörungen wie Potenzproblemen und Orgasmusschwierigkeiten führen. Pornos können den Dopaminhaushalt unseres Gehirns durcheinanderbringen und uns abhängig machen – Pornosucht.
Als Online Community bietet NoFap einen Raum, in dem sich Menschen gegenseitig Rückhalt beim Entzug aus der Pornosucht geben. Entzug heißt: nicht mehr zu Pornografie zu masturbieren. Die Idee ist, dass sich der Botenstoffhaushalt in unserem Gehirn damit wieder ausbalanciert. Das Gehirn „rewired“ sich (verkabelt sich neu).
Wenn ich mich mit Menschen über Pornografie unterhalte, merke ich, dass die Gedanken von NoFap in unserem allgemeinen gesellschaftlichen Bewusstsein bereits angekommen sind. Die Bewegung ist bekannt.
Und damit begegne ich bei Pornokonsument:innen immer wieder auch einer Unsicherheit: Sind Pornos schlecht für mich? Bin ich süchtig? Sollte ich damit aufhören? Es scheint ein intuitives Grundgefühl zu geben: Irgendetwas stimmt doch an Pornos nicht…
Ich möchte heute an dieses Gefühl und an diese Unsicherheit anknüpfen. Indem ich dich einlade, einen Blick auf die Grenzen von NoFap zu werfen und einen Schritt weiter zu denken.
Pornografie als Droge
Das noch vorweg: Dies ist kein Artikel gegen Pornografie. Pornografie kann Spaß machen und uns tolle Momente schenken. Aber sie ist auch eine allzu leicht verfügbare Intensität, kann zur Alltäglichkeit werden und sich ungewollt auf unser Leben auswirken.
Es gibt hier keine klare Trennung zwischen Gut und Böse. Die Frage ist einfach, wie wir mit Pornografie umgehen und was wir uns für unsere eigene Sexualität wünschen.
Wenn wir für uns erkennen, dass uns Pornos nicht gut tun, dann ist Entzug jedenfalls ein sinnvoller Schritt. Die NoFap Foren sind voll von Erfolgsberichten: Menschen, für die sich der Alltagsschleier löst, den sie mit dem Pornokonsum assoziieren. Deren Erektionsschwierigkeiten wie von alleine verschwinden. Ein neues Selbstbewusstsein, eine neue Wahrnehmung der Welt.
Aufklärung und Entzug sind sehr wichtige Anknüpfpunkte für ein Konsumverhalten im Autopilot. Der Rückhalt der Community, die Wirkungen des Entzugs auf unser Gehirn, die Kraft der neuen Selbstbestimmtheit – es steckt viel positive Energie in NoFap! In Entzugsprogrammen können sich sicher viele Menschen finden.
Über NoFap hinaus: Vom passiven zum aktiven Rewiring
Aber genauso gibt es Menschen, für die funktioniert NoFap nicht. Sie fangen nicht an, vor lauter Energie zu strahlen, sie leben weiter mit ihrem Schleier und der Pornosucht, werden ungewollt rückfällig, leben mit Frust und Scham oder sind von jetzt an einfach verunsichert. Auf der taz gab es einst einen kritischen Artikel dazu, dort z.B. die Geschichte von Hendrik.
Für mich wird an dieser Geschichte etwas sehr deutlich. Nämlich, dass es innerhalb der NoFap Bewegung an Antworten fehlt auf die Frage: Wie können wir eine neue, gesunde Sexualität entwickeln?
Wenn unsere Sexualität maßgeblich von Pornografie geprägt wird, was kommt dann nach der Pornografie?
Hier möchte ich mit meiner Kritik ansetzen: Bei NoFap sehe ich für das Danach in unserer Sexualität vor allem Leere.
Klar, es ändert sich schon etwas. Menschen auf NoFap berichten von gesteigerter Libido, zurückgekehrten Erektionen. Aber es bleibt da bei Verheißungen. Etwas, das von ganz alleine kommt, als wäre unsere Sexualität ohne Pornografie gleich glücksbeseelt und erfüllt. Das gilt nicht für alle.
Zumal die Verheißungen trügerisch sind. Erregung, Erektionen, Orgasmen. Sicher sind diese Erfahrungen wichtig für uns, um uns in unserer Sexualität frei zu fühlen. Aber Orgasmen alleine machen eben noch keinen erfüllenden Sex.
Und auch: Wenn wir nicht gerade regelmäßige Sexualpartner:innen haben, wo und wie können wir unsere Sexualität nach dem Entzug überhaupt noch leben? Der Entzug verbannt die eigene Sexualität erstmal aus unserem Leben. Im NoFap Forum wird zu Sport oder Spaziergängen geraten. Und Sport ist toll – aber Sport ist eben kein Sex.
Unsere Sexualität ist ja ein wichtiger Teil von uns. Eine Quelle für Lust und Liebe, Vielfalt und Genuss, Intimität und Ästhetik. Und mit einem Pornoentzug sperren wir diesen Teil möglicherweise ganz von uns aus. Was einen festen Raum in unserem Leben hatte, verschwindet dann ersatzlos.
Also nochmal:
Was können wir tun, um eine neue, gesunde Sexualität zu entwickeln?
Um in den Worten der NoFap Bewegung zu bleiben: Rewiring. Doch ich spreche nicht vom passiven Rewiring, das von ganz alleine geschieht, wenn unser Gehirn sich im Entzug vom ständigen Konsumieren erholt. Ich spreche von einem aktiven Rewiring, mit dem wir ganz bewusst neue Genussstrukturen in unserem Gehirn „verkabeln“.
Ja, genau: Wir entdecken eine neue Lust, außerhalb unserer Pornowelt. Und hier wird es spannend.
Ich würde da gerne über drei Aspekte schreiben: über unseren Körper, über Beziehung und über Emotionen. In all diesen drei Bereichen können wir auf Entdeckungsreisen gehen und die ganze Lebendigkeit unserer Sexualität genießen lernen.
Unser Körper: Die Lust im Hier und Jetzt
Ich sehe hier den wichtigsten Schritt beim Entfalten einer neuen Sexualität, weg von einer rein pornogetriebenen Lust: Unseren eigenen Körper spüren zu lernen. Im Hier und Jetzt zu sein. Genuss aus uns selbst schöpfen zu können.
Denn gerade das nimmt uns die Pornografie: unsere Aufmerksamkeit ist ganz auf den Bildschirm gerichtet, unsere Erregung ist angewiesen auf äußere Reize.
Wir haben schon lange nicht mehr bewusst wahrgenommen, wie schön sich unsere Genitalien und unsere gesamte innere Welt eigentlich anfühlen können. Unser Becken erleben wir als sensorisches Loch mit nur wenig Empfindungen, die einfach nicht mithalten können mit der Intensität von Pornografie.
Manchmal gelangen Menschen beim Schauen von Pornografie ganz leicht in Erregung, nicht aber beim Sex mit dem:der Partner:in. Den eigenen Körper nicht spüren und genießen zu können, ist ein Teil dieses Puzzles. Denn im sexuellen Miteinander müssen wir uns in das Hier und Jetzt des Moments fallen lassen und unsere Körper als Teil dieses süßen Geschlängels erleben.
Die gute Nachricht ist, dass wir mit unserem sinnlichen Genuss jederzeit neu vertraut werden können. Es ist, als würden wir lernen, unseren Körper wie ein Musikinstrument zu spielen.
Wir können erfahren, wie sich unterschiedliche Berührungen anfühlen, fest und weich, ganzflächig und punktuell, an sämtlichen Stellen unseres Körpers. Wir können uns aktiv entspannen, können ganz fein werden in der Wahrnehmung unserer Genitalien. Und wir können mit unserem Körper in den Ausdruck gehen: Wir können lernen, unseren Atem, unser Stöhnen und unsere Bewegung einzusetzen und unsere Lust damit bis in die Ekstase zu steigern.
All das wird uns dabei unterstützen, unsere Gedanken und Pornofantasien einmal loszulassen und ganz im Moment zu sein. Unsere Lust aus uns selbst heraus zu entfalten, ganz ohne Bilder von außen.
Beim Schauen von Pornografie sind wir Zuschauer:innen der Lust. Mit unseren eigenen Körpern werden wir selbst zur Lust.
Lust zu lernen und zu feiern: Es ist diese Richtung, die NoFap einschlagen müsste, um wirklich zu einer sexpositiven Bewegung zu werden – eine Bewegung, die Sexualität nicht nur annimmt, sondern auch explizit bejaht und empowert.
In Beziehung sein
Hier ist eine zweite Ebene, die uns in Pornografie verloren geht: Der Kontakt zu anderen Menschen. Für viele von uns ist Verbindung ein essenzieller Bestandteil einer erfüllenden Sexualität. Wir möchten uns mit einer anderen Person sicher fühlen können. Wir möchten gesehen werden und wir möchten uns verletzlich zeigen können.
Beim Pornoschauen lernen wir das nicht. Denn da setzen wir uns in Beziehung zu Objekten am Bildschirm. Und wenn wir nicht das Glück haben, Verbindung andernorts in unserem Leben und unserer Sexualität zu lernen, dann lernen wir es gar nicht.
Doch wir können Begegnung tatsächlich erlernen. Wir können lernen, andere Menschen so zu sehen, wie sie sind, statt sie unter der Brille unserer Fantasie zu betrachten. Wir können lernen, uns mit unseren Bedürfnissen mitzuteilen und mutig für sie einzustehen. Wir können lernen, Konflikte zu durchleben und sie gemeinsam zu bewältigen.
Und dann können wir eine Nähe erleben, die eine ganz neue Lust in sich trägt.
Unsere Emotionen halten können
NoFap bietet keinen Rahmen für eine tiefere emotionale Außeinandersetzung mit einer Pornosucht. Wir betrachten nicht unsere ganz eigene, persönliche Entwicklungsgeschichte, es wird nicht kompliziert, nein, unser Entzug beginnt jetzt! und wir zählen unsere pornofreien Tage.
In dieser Einfachheit liegt durchaus eine Stärke der Bewegung. Wenn wir die ganzen Fragen über unsere Prägungen einfach einmal beiseite lassen.
Aber das kann auch zu kurz greifen. Weil wir mit Pornos schließlich eine ganze Fülle von Emotionen bewegen. Für viele von uns ist unser Pornokonsum ein Mittel, um z.B. Stress oder Traurigkeit zu regulieren. Und Pornografie bietet uns einen Zugang zu Intensitäten, die wir sonst vielleicht vermissen.
Wir können uns hier ganz spannende Fragen stellen. Warum schauen wir Pornos? Was fällt weg in unserem Leben, wenn wir Pornos daraus verbannen? Finden wir in Pornografie z.B. eine bestimmte Form von Nähe, die in unserem Leben sonst ganz außen vor bleibt?
Was genau erregt uns eigentlich an dieser wilden Szene? Was hat das mit unseren grundlegenden Bedürfnissen und Konflikten im Leben zu tun?
In Pornografie zeigt sich manchmal, welche unerfüllten Wünsche und offenen emotionalen Fragen wir mit uns herumschleppen. Wenn wir hier genau hinsehen, können wir uns ein Stückchen mehr selbst kennenlernen.
Vielleicht entdecken wir, welche Emotionen uns in unserem Alltag, in unserem Beziehungsleben und in unserer Sexualität manchmal auch unbewusst antreiben. Vielleicht finden wir heraus, welche tieferen Bedürfnisse wir mit Pornografie befriedigen.
Es ist ein lernen, sich für diese Gefühle und Bedürfnisse zu öffnen – im Herzen, nicht nur im Kopf. Und oft steckt genau darin ein großes Maß unserer Lebendigkeit. Was passiert, wenn wir unsere Lebendigkeit nicht mehr an Pornografie binden sondern sie frei werden lassen?
Eine Reise zu uns selbst
Unsere Körper, die Beziehung zu anderen Menschen und unser emotionales Innenleben – jeder dieser Bereiche unseres Lebens können wir uns mit Achtsamkeit und Bewusstseinsarbeit nähern.
Es gibt in unserem Umgang mit Pornografie nicht weniger zu entdecken als uns selbst.
Und zugegeben, je nachdem, wo wir gerade stehen, kann dies ein langer und beschwerlicher Weg sein. Denn erst einmal will unsere Lust vielleicht nichts anderes als Porno.
Aber wenn wir diesen Weg liebevoll beschreiten – ein Wanderpfad, kein NoFap-Kalender, den wir ungeduldig durchkreuzen – dann können wir das Abenteuer genießen und hier eine ganze Menge Freude am Entdecken unserer neuen Sexualität gewinnen.
Dann kann eine Veränderung stattfinden, hin zu einer gefühl- und lustvollen Sexualität in Verbindung mit uns selbst und unseren Partner*innen.
Und wir müssen diesen Weg nicht alleine gehen.
Die sexpositive Bewegung widmet sich in Workshops und Gruppen dem bewussten Erforschen der Sexualität widmen. Ich frage mich, wie das wäre, wenn diese Welten aufeinandertreffen: Wenn die Menschen der NoFap Community nicht nur über ihre Erfolge und Misserfolge im Entzug von der Pornosucht schreiben, sondern sich auch über das Entdecken ihrer neuen Sexualität austauschen?
Und es gibt Körperarbeiter:innen wie mich, die ihre Klient*innen beim fokussierten Lernen und Erforschen ihrer Sexualität unterstützen. Hast du Lust? Ich würde mich freuen, dich im Rahmen meiner Sexological Bodywork Sitzungen auf deinem individuellen Weg zu begleiten.
Denn meine Erfahrung ist: Wenn Menschen erst einmal auch außerhalb von Pornografie eine Faszination für ihre Sexualität entdecken… Dann verflüchtigt sich die Macht der Pornografie manchmal wie von alleine.
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